Machtverschiebung: Figma schluckt Headless CMS Payload
Es ist ein warmer Julitag im Sommer 2025, als an der Wall Street ein neuer Name auf den Bildschirmen erscheint: FIG. Die Glocke läutet, Händler jubeln, auf der Anzeigetafel steigt der Kurs unaufhaltsam nach oben. Figma, das Start-up aus San Francisco, ist an der Börse. Die Aktie war mit 33 Dollar ausgegeben worden, doch schon kurz nach Handelsbeginn steht sie bei 85, am Abend bei über 115 Dollar. Fast eine Verdreifachung an einem einzigen Tag. Selbst hartgesottene Broker reiben sich die Augen.
Dass ausgerechnet ein Design-Werkzeug für einen der spektakulärsten Börsengänge des Jahrzehnts sorgt, ist bemerkenswert. Figma, gegründet 2012, hatte einst als Browser-Spielerei begonnen – ein Programm, mit dem Designer online Buttons und Menüs zeichnen konnten, so wie man in Google Docs gemeinsam Texte schreibt. Heute entwerfen Millionen Menschen weltweit in Figma die Oberflächen von Apps, Websites oder digitalen Produkten. Spotify, BMW, Lufthansa, die Sparkasse – wer sich in einer App bewegt, hat vermutlich irgendwo die Spuren von Figma vor sich.
Euphorie und Ernüchterung
Die Euphorie an der Börse war gewaltig. „Figma-Stock more than triples on its first day of trading“, schrieb Investopedianüchtern (Quelle: Investopedia, 31.07.2025). Doch schon wenige Wochen später folgte die Ernüchterung. Der Kurs fiel um mehr als 50 Prozent vom Höchststand. Analysten warnten vor einer Überbewertung. „Die Realität holt die Bewertung ein“, titelte das Finanzportal TipRanks (Quelle: TipRanks, 2025).
Was bleibt, ist ein Unternehmen, das mit fast einer Milliarde Dollar Jahresumsatz und Wachstumsraten von über 40 Prozent pro Jahr sowie 450.000 aktiven Nutzern eine beeindruckende Basis hat. Doch die Börse fragt nach mehr: Wo ist der nächste Wachstumsschub, wie lässt sich aus einem Design-Werkzeug eine Plattform machen, die über Jahre Milliarden einspielt?
Der geplatzte Adobe-Deal
Die Antwort auf diese Frage war ursprünglich ein anderer: Adobe, der Gigant hinter Photoshop, wollte Figma 2022 für 20 Milliarden Dollar übernehmen. Es wäre die teuerste Übernahme der Kreativbranche gewesen. Doch Kartellwächter in den USA und Europa sahen die Gefahr eines Monopols und stoppten den Deal. Ende 2023 war der Traum ausgeträumt.
Für Figma bedeutete das: nun allein wachsen, allein beweisen, dass man nicht nur Übernahmeobjekt ist, sondern selbst Gestalter der Branche.
Ein unscheinbarer Kauf mit Signalwirkung
Und so kam im Juni 2025 eine Nachricht, die auf den ersten Blick unspektakulär wirkte: Figma übernimmt das kleine Open-Source-Projekt Payload, ein sogenanntes Headless CMS.
CMS – drei Buchstaben, die für die meisten so spannend klingen wie ein Leitz-Ordner im Büro. Doch im Hintergrund steuern sie fast das gesamte Web: Content-Management-Systeme wie WordPress, Drupal oder moderne Headless-Varianten wie Contentful, Sanity oder Storyblok. Sie regeln, wie Texte, Bilder, Videos und Daten gespeichert und auf Websites ausgespielt werden.
Payload unterschied sich von den großen Playern: Es war radikal auf Entwickler zugeschnitten, Open Source, frei installierbar. „Entwickler sind zu Payload geströmt, weil man praktisch alles anpassen kann, weil man es so erweitern kann, wie man will, und weil die Entwickler-Erfahrung einfach besser ist als bei den Alternativen“, schrieb Figma in seinem eigenen Blog zur Übernahme (Quelle: Figma Blog, 18.06.2025). Inzwischen hat Payload bei den Github Stars zu den anderen großen CMS Plattformen aufgeschlossen.
Die entscheidende Idee: Wer in Figma eine Website entwirft, soll sie mit dem Headless CMS Payload direkt veröffentlichen können. Kein Übergabe-Marathon mehr, keine Kopierfehler, kein wochenlanges Warten. Designer, Redakteure und Entwickler arbeiten in einem Fluss.
„Inhalte sind nicht länger nachgelagert“
Felipe Jaramillo, Analyst beim Fachmagazin CMSWire, kommentierte den Deal so: „CMS-Workflows verschieben sich nach links. Inhalte sind nicht länger nachgelagert, sondern Teil der Design-Diskussion vom ersten Tag an“ (Quelle: CMSWire, 2025).
Für Laien übersetzt heißt das: Inhalte – also Texte, Bilder, Daten – tauchen nicht erst am Ende auf, wenn die Website schon fast fertig ist. Sie sind von Anfang an Teil des Entwurfs. Wer in Figma eine Seite baut, sieht sofort, wie der Text wirkt, wie das Bild den Button verschiebt, wie das Layout sich verändert, wenn der Slogan länger ist als gedacht.
Das mag trivial klingen, ist aber eine fundamentale Verschiebung. Bislang galt: Design hier, Inhalte dort, Entwickler irgendwo dazwischen. Mit Payload zieht Figma diese Teile zusammen.
Was das für Mitbewerber bedeutet
Für die etablierten Headless CMS-Anbieter ist das eine Herausforderung. Contentful hat sich mit großen Konzernen etabliert, Sanity glänzt mit Echtzeit-Kollaboration, Storyblok mit visuellem Editing, Hygraph mit GraphQL-Performance. Doch alle diese Systeme bleiben außerhalb der Design-Welt.
Wenn Figma seine Schnittstellen weiter öffnet, ist zu erwarten, dass auch andere Headless CMS den Anschluss suchen. Sanity könnte seine „Studios“ tiefer mit Figma verknüpfen, Storyblok sein Visual Editing direkt ins Figma-Interface ziehen. Contentful und Hygraph werden nicht zusehen wollen, wie Payload allein das Spielfeld betritt.
Damit wird der Payload-Kauf zu mehr als einer Übernahme. Er ist ein Signal: Die Grenzen zwischen Design, Content und Code verschwimmen.
Ein Blick zum Wettbewerb: Vercel und v0
Figma ist nicht allein mit dieser Vision. Auch das Unternehmen Vercel, bekannt für seine Entwickler-Plattform, arbeitet am nahtlosen Übergang. Mit dem Projekt v0.app sollen Design-Elemente automatisch in produktionsreifen React-Code übersetzt werden. Statt Designer zu Entwicklern oder Entwickler zu Designern zu machen, will Vercel die Brücke automatisieren.
Während Vercel also vom Code her kommt, nähert sich Figma von der Design-Seite. Beide zielen auf dasselbe: den Übergang zwischen Idee und Umsetzung so reibungslos wie möglich zu gestalten.
Was das für den E-Commerce heißt
Für den E-Commerce ist diese Entwicklung besonders spannend. Online-Shops sind heute hochkomplexe Konstrukte: Produktdaten liegen in einem PIM-System, Inhalte in einem Headless CMS, das Design in Figma, die Logik im Shop-System, die Umsetzung bei Entwicklern. Jede neue Landingpage, jede Kampagne, jede Übersetzung ist ein Projekt mit vielen Abhängigkeiten.
Wenn Figma und Payload es schaffen, Design, Content und Veröffentlichung in einem Werkzeug zu bündeln, verändert das den Alltag ganzer Teams. Eine Modemarke, die zum Black Friday neue Kampagnen fährt, könnte innerhalb weniger Tage neue Seiten entwerfen, befüllen und live schalten. Ein Hersteller wie Porsche E-Bike Performance könnte internationale Produktlaunches mit konsistentem Design, Text und Lokalisierung schneller auf den Markt bringen.
Für Händler bedeutet das: geringere Kosten, kürzere Reaktionszeiten, weniger Fehler. Für die Mitbewerber bedeutet es: ihre bisherigen Alleinstellungsmerkmale bröckeln.
Die große Wette auf Künstliche Intelligenz
Parallel dazu treibt Figma seine AI-Offensive voran. Mit dem Projekt „Make“ sollen Designer Oberflächen bauen, die per Chat mit Logik versehen werden: „Was soll dieser Button tun?“ fragt die Maschine, und spuckt direkt Code aus. Noch ist dieser Code oft fehlerhaft, für große Produktionssysteme ungeeignet. Doch die Richtung ist klar: Figma will nicht nur Entwurf, sondern auch funktionierende Anwendung liefern.
Das erinnert an die Experimente von Vercel mit v0. Es zeigt, dass die Branche insgesamt in Bewegung ist: Der Weg von der Idee zum fertigen Produkt soll so kurz wie möglich werden.
Chancen und Risiken
Die Chancen sind riesig. Wer es schafft, den gesamten Kreislauf von Idee, Design, Content und Veröffentlichung in einem Fluss abzubilden, könnte zum dominanten Werkzeug der Digitalwirtschaft werden. Doch die Risiken sind ebenso groß.
Der Börsengang hat gezeigt, wie schnell Euphorie und Ernüchterung wechseln. Die Aktie ist anfällig für jede Abweichung von Wachstumszielen. Und auch technologisch bleibt vieles offen: Wird der generierte Code wirklich produktionsreif? Skaliert Payload unter Figmas Dach im Enterprise-Einsatz? Ziehen die Headless CMS-Mitbewerber nach, bevor Figma sein Ökosystem geschlossen hat?
Mehr als ein Börsengang
Am Ende ist der Börsengang nur der laute Auftakt, das Payload-Experiment der eigentliche Wendepunkt. Wenn Figma es schafft, Content nicht länger als nachgelagerte Pflichtübung, sondern als integralen Teil des Designs zu etablieren, könnte es die Regeln im Headless-E-Commerce neu schreiben.
Die Vision ist verlockend: eine Welt, in der Designer, Entwickler und Redakteure nicht länger aneinander vorbeiarbeiten, sondern in einem Tool zusammenspielen. Für manche CMS-Anbieter mag das bedrohlich wirken, für andere ist es eine Einladung. Für Investoren bleibt es eine Wette: zwischen der Magie der Vision und der Nüchternheit der Umsetzung.